Tantra: Made in Germany

Tantra-Massage ist wie Pizza Hawaii.

Nur schlimmer.

Die Pizza Hawaii wurde in Kanada erfunden. 1962 entschied dort ein experimentierfreudiger Grieche, inspiriert von der chinesischen Küche, Ananas auf etwas zu legen, das zwar immer noch einen italienischen Namen trug, aber schon damals mit dem Original nur noch wenig Ähnlichkeit hatte.

Während die einen diese Kreation für eine Beleidigung ihrer Geschmacksnerven halten, feiern andere (zu denen auch ich gehöre) die Tatsache, dass kulturelle Kreuzbefruchtung solche kulinarischen Freuden hervorgebracht hat.

Ich fasse hauptberuflich nackte Menschen an, auch untenrum. Ich fasse sie nicht irgendwie an: Was ich mache, nennen viele auch Berührungskunst.

Und das ist kein Euphemismus.

Die hierzulande wohl bekannteste und beliebteste Spielart des Tantra sieht auf den ersten Blick aus wie eine raffiniertere Form der Erotik-Massage. In Wahrheit ist sie ein komplexes, nicht zwingend erotisches Geschehen, bei dem sich zwei einander meist fremde Personen mit ihrer ganzen nackten Menschlichkeit radikal aufeinander einlassen.

Die Wirkung der Tantra-Massage ist eindrucksvoll: Man hört unsere Kund*innen beispielsweise immer wieder sagen: “Wenn sich das doch bloß alle Menschen hin und wieder gönnen würden - die Welt wäre ein friedlicherer Ort!”

Die tantrische Lüge

Wir selbst sind mindestens genauso überzeugt von unserem Beruf. Das müssen wir auch sein.

Sonst hätten wir wohl längst aufgegeben angesichts der Tatsache, dass diese besondere Form kunstfertiger Co-Leiblichkeit als Prostitution eingestuft und mit den entsprechenden Schikanen durch unsere rückständige Prostitutionsgesetzgebung verbunden ist.

Jetzt sind wir zusätzlich damit konfrontiert, dass eine bestimmte Strömung des Zeitgeists unsere Arbeit für politisch unkorrekt hält.

Wieso? Weil sie mit der Behauptung, einen Bezug zu indischer Kultur zu haben eine spirituelle Tradition beleidigt, indem unter diesem Namen priviligierte weiße Mitteleuropäer*innen Sex-Wellness für viel Geld an priviligierte weiße Mitteleuropäer*innen verkaufen.

Das ist so ähnlich, wie wenn in Japan jemand Schlagermusik vertreibt und behauptet, sie wäre von Beethoven.

Nur schlimmer.

Die wahre Geschichte

Die Tantra-Massage wurde 1985 in Deutschland von einem Deutschen erfunden, der zwar in Indien Tantra studiert hatte, aber auch als Zen-Mönch ordiniert war und als Männer-Masseur in arabischen Hamams gearbeitet hatte. Zu einer Dienstleistung wurde sie von Frauen gemacht, die vor allem dem Schamanismus Nordamerikas verbunden waren (oder dem, was ihnen als solcher verkauft wurde). Später wurde unter anderem eine angeblich taoistische Intimmassage integriert.

Erst in den 90ern wurde die Tantra-Massage vermehrt vom sogenannten Neo-Tantra geprägt, einem wilden Mix aus spirituellen Inhalten diverser Kulturen, viel westlicher Psychologie und fragwürdiger Ästhetik, das in den 70ern von einem indischen Guru explizit für die Zielgruppe westlicher “Suchender” entwickelt und geschickt vermarktet worden war.

Wen interessiert's?

Religionswissenschaftler wie Hugh Urban und David Gordon White finden schon lange immer wieder beißend kritische Worte für diese Entwicklung (“New Age Tantra is to medieval Tantra what finger painting is to fine art”). Obwohl sie sich von Berufs wegen mit kulturellen Wanderungs- und Verschmelzungsprozessen beschäftigen, ist dieser spezielle Fall von Verformung, Vermischung und Zweckentfremdung für sie ein Affront.

Kritische indische Stimmen sind mir noch nicht bekannt. Im prüden Indien spricht man nicht gern über Tantra, zumal es dort von den meisten für schwarze Magie gehalten wird, à la “Indiana Jones und der Tempel des Todes”. Aber das ist eine andere Geschichte…

Die Frage: Ist Tantra kulturelle Aneignung? Lässt sich nicht einfach mit “Ja”oder “Nein” beantworten.

Stattdessen müsste man sich über Folgendes Gedanken machen: Wem schadet es, wenn wir hier sexualpädagogische Angebote und sinnliche Dienstleistungen als “Tantra” bezeichnen?

Wem nützt die Empörung darüber? (Wer darf sich überhaupt empören?)

Handelt es sich um eine Verflachung fremder Kultur, womöglich sogar um wirtschaftliche Ausbeutung derselben oder um interkulturelles Lernen - und sollte man alle drei im Sinne der politischen Korrektheit unterlassen?

Spirituelle Fettnäpfchen

Fakt ist: Tantra-Massage hat mit dem Original ungefähr so viel zu tun wie Pizza Hawaii mit Italien. Tantriker*innen interessierten sich noch nie für sinnliche Kunstfertigkeit, sexuelle Selbstfindung oder gar “Wellness”.

Es handelt sich also nicht um den Diebstahl einer kulturellen Praxis, wie es der westlichen Yoga-Community vorgeworfen wird, sondern um einen Etikettenschwindel, der sich von heute aus betrachtet nur noch schwer als Zeichen der Bewunderung, also kulturelle Wertschätzung rechtfertigen lässt.

Zumal im Kontext von Tantra-Seminaren und -Massagen standardmäßig Symbole, Artefakte und Begriffe fremder Kulturen benutzt werden, ohne ihren tieferen Sinn und Zweck zu verstehen: Mandalas auf Massagelaken, “Om”-Symbole auf Sitzkissen, Mantras als musikalische Untermalung, Gött*innenstatuen auf dem Boden - selbsternannte Tantriker*innen sind meisterlich darin, sich mit den allerbesten Absichten erstaunlich schlecht zu benehmen.

Tantra dekolonisieren

Viele Menschen (zu denen auch ich gehöre) gruselt der Versuch, klare Grenzen zwischen Kulturen und Völkern zu ziehen und ihnen jeweils das Urheberrecht für ihre Praktiken und ihr Gedankengut zuzuteilen. Kulturen zu entmischen und interkulturelles Lernen zu meiden halte ich für eine gefährliche Idee.

Gleichzeitig gilt es, die zentralen Werte unserer Arbeit - Respekt und Mitgefühl - konsequent umzusetzen.

Vielleicht können wir uns in dieser Hinsicht von der Yoga-Community einiges abschauen, wo sich einige schon seit einer Weile für die Dekolonisierung dieser Praxis einsetzen:

  1. Eine echte, ernsthafte Auseinandersetzung mit tantrischen Traditionen würde den Vorwurf des Missbrauchs zumindest abschwächen.

  2. Der korrekte Umgang mit Symbolen, Gött*innen und dergleichen würde sich daraus hoffentlich von selbst ergeben oder aus Anstand wegfallen.

  3. Unabhängig davon, wie man dazu steht, wie und von wem der Diskurs um kulturelle Aneignung geführt wird: Ein Bewusstsein über interkulturelle Sensibilität sollte innerhalb der Tantra-Community unbedingt alsbald geschaffen werden.

  4. Warum sich nicht endlich auf die wahre Geschichte der Tantra-Massage besinnen? Die ist nämlich viel interessanter als der Mythos, in einer “jahrtausende alten Tradition” zu stehen. Es gibt viel zu lernen: über unsere eigene Geschichte, den Wandel sexueller Kultur mit dem Zeitgeist, über andere Kulturen und unsere Sehnsucht nach Lust, Sinn und Freiheit. Und es gibt auch Gründe, stolz zu sein.

Den Etikettenschwindel zu beheben, wird vermutlich schwieriger - und das nicht nur wegen der Suchmaschinenoptimierung.

Die Tantra-Massage wurde damals so benannt, weil es in unserer Kultur keine Sprache gab für eine ganzheitliche, kunstvolle sexuelle Dienstleistung, die gleichermaßen entspannend, lustvoll und heilsam sein kann, und das ist bis heute so.

Darüber sollte man sich mindestens so sehr empören wie über das Plagiieren fremder Kulturgüter.

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What is Tantra?

Buch: Hautrausch. Inside Tantra-Massage

Die Wahrheit über Tantra-Massage

Eva Hanson

Eva erforscht sexuelle Kultur in Theorie und Praxis. Man könnte auch sagen, sie ist ein Sex-Nerd. Wenn sie keine Tantra-Massagen gibt, findet man sie meistens hinter einem Buch.

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