Das Kafkameter schlägt Samsa

***Salon Rest Boheme 2 / Selbstoptimierung***

Reden wir vom Internet. Und von Hippies. Und Perversen. Reden wir über Verschwörungen. Der gefährlichsten Erfindung seit Moby Dick und der Atombombe.

Auf dem von null bis elf reichenden Kafkameter, der einzig respektablen Messtabelle für Verschwörungen, schlägt die Verschwörung, von der ich jetzt rede, bei einer vollen 13 aus.

Die Tarnung, die ihre Hintermänner dieser Mutter aller Verschwörungen verpassten, ist so genial, dass ihr Projekt bisher nicht einmal einen Namen hatte.

Daher nenne ich es entsprechend ihres Kafkameterausschlags schlicht SAMSA 13.

Jede Verschwörung beginnt mit einer Idee. Die muss auch gar nicht düster dunkel sein. Nur radikal, das muss sie sein.

Wer genau SAMSA 13 ins Leben rief ist unter den wenigen einschlägigen Experten umstritten. Dafür ist ihre Entstehungsgeschichte und vor allem, die Idee, mit der sie begann, gut belegt.

Cut nach: Wien, Anfang des 20sten Jahrhunderts.

Doc Sigi Freud litt heftigst am Unbehagen in der Kultur und erkannte in unterdrückter Sexualität zwar eine der Ursachen vieler psychischer Störungen in seinen Patienten. Aber er sah in einer entfesselten Sexualität auch keine Lösung, sondern warnte sogar ausdrücklich davor, Sex völlig von Tabus zu befreien. Sex als unsere stärkste Triebfeder überhaupt, zu lax zu behandeln sei gefährlich, meinte er. Denn es steigere zwangsläufig den Narzissmusfaktor in uns und führte dadurch früher oder später zu einer egoistischeren Gesellschaft.

Das exakte Gegenteil glaubte sein Teilweggefährte Wilhelm Reich.

Der war nämlich überzeugt, dass sexuelle Befriedigung der einzige Weg zu wahrhafter persönlicher Erfüllung sei. Er fand, dass die Unterdrückung unserer Triebe zu psychologischen Traumata und gefährlichen Formen von Aggression führe und kreative Entwicklungspotenziale hemmt. Was du zum Glücklichsein frei nach Wilhelm Reich brauchst ist also guter, enthemmter Sex. Hast du den, dann bist du auf dem besten Weg auch alle übrigen in dir schlummernden Potenziale zu erkennen und VIELLEICHT zu wecken und ausleben zu können. Anfang des 20sten Jahrhunderts waren das radikale Ideen. Reich musste vor den Nazis fliehen und hauchte später sein Leben in einer amerikanischen Irrenanstalt aus, nachdem ihn das FBI als gefährlichen Aktivisten verhaftete und dann einsperren ließ. Doch er hatte zuvor eine Gefolgschaft von Anhängern aufgebaut, die seine Idee vom gelungenen Leben durch die Befreiung von sexueller Repression weiter trugen.

Dann tauchten die Hippies auf. Sie stürzten sich auf Reichs Thesen wie Bienen auf Cremetorten.

Cut nach: San Francisco, Ende der 60er Jahre.

Stell dir vor es liegt Revolution in der Luft und dein Name ist Jane. Du bist jung, stammst aus einem Nest namens Jonestown Gulch und warst dort immer fleißig, züchtig und die Beste im Bibelkreis. Aber plötzlich dropst du als junger, erfahrungshungriger Mensch in San Francisco aus dem Bus.

Dort laufen eine Menge Menschen herum, die deinem sexuellen Beuteschema entsprechen. Die vögeln relativ ungehemmt frei durch die Lande und verticken dazwischen außerdem Gras, Koks und Acid Trips. Oh sweet Paradise, here I come!

Klar, Jane begreift nur einen Bruchteil dessen, was um sie herum abgeht, aber schließlich weiht man sie in die Philosophie ein, die hinter all der süßen Anarchie steckt. Die stützt sich zwar auf die Thesen von Wilhelm Reich. Doch die sind erweitert worden. Denn die Hippies beharren darauf. dass jeder ein verbrieftes Recht darauf hätte sämtliche in ihm schlummernden Potenziale dadurch zu erwecken, dass er/sie/es sich hemmungslos durch die Gegend vögelte, kiffte und tanzte. Instant Happiness sozusagen. Erlangt auf die angenehmste nur vorstellbare Weise.

Geilo denkt Jane sich da und stürzt sich jetzt erst recht ins Getümmel der sexuellen Revolutionäre mit Acid-Abbo.

Bloß hatte das einen Haken.

Schon okay, dass man seine Aggressionen durch Sex abbaut und die Kreativität nicht mehr von überholter Moral unterdrücken lässt. Aber dieses angeblich verbriefte Recht auf hemmungslosen Triebabbau durch Sex führte auch zu unschönen Szenen, sobald es mit den wirklich anarchischen Seiten der Sexualität kollidierte - Lust und Anziehungskraft nämlich.

Wenn Jane also zu Tom sagte: Dich find ich lecker, dich küre ich zum Instrument meiner Potenzialerweckung. Aber Tom fand, dass Jane nun mal nicht sein Typ war und ihr darum einen Korb gab, dann fand Jane, dass er ihr Recht auf Selbstverwirklichung sabotierte und wurde entsprechend sauer und aggro.

San Francisco wir haben ein Problem.

Doch Rettung für Jane nahte. Denn einige halbseidene Typen boten Jane und anderen wie ihr einen Selbsthilfekurs an. Der, versprach die wahre Erfüllung ganz ohne die Gefahr sich dabei einen Korb zu holen.

Durch eine Kombination aus mysteriösen fernöstlichen Techniken wie Yoga und Meditation und Gruppenbrülltherapie, versicherten die Kursleiter, sei jeder fähig dazu seine verborgenen Entwicklungspotenziale zu erwecken. Richtig guten Sex, könnte man sowieso erst haben, nachdem man seine Potenziale befreit und zu seinem wahren Selbst gefunden habe.

Jane bezahlt den Kurs und steigt voll drauf ein.

Institute, die solche Kurse anbieten, schossen damals wie Pilze aus dem Boden. Eine Menge Quacksalber und Schnellschwätzer wurden zu Millionären und nannten sich fortan Guru.

Ein Jahr später hat Jane ihr inneres Potenzial befreit und trifft zufällig Tom wieder. Der inzwischen auch einige Körbe zu verarbeiten gehabt hatte. Beide finden zusammen, eröffnen eine Eisdiele in Dubai und werden vielleicht sogar glücklich.

Happy End.

Wo bleibt die Verschwörung? Was Ist mit SAMSA 13?

Cut nach USA in den Achtziger Jahren.

Die Zeiten sind mies für Millionäre und Milliardäre, die Steuern sind hoch, die Banken durch Gesetze in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt und es gibt Gewerkschaften, die so mächtig sind, dass sie hin und wieder sogar die Interessen Ihrer Mitglieder vertreten.

Ronald Reagan gewinnt die Wahl und seine Berater machen sich daran den Turbo an den Kapitalismus anzudocken. Im Kino verkündet Gordon Gekko, dass Gier geil sei und in Manhattan verdienen sich Schampushändler und Escortladies an den Börsenmaklern bald die Nasen so goldig, dass sie die anschließend mit Unmengen an Koks nur umso besser wieder ruinieren können.

Doch ein Problem blieb bisher ungelöst, dass der Entfesselung der vollen Wirtschaftsturbokraft entgegensteht: Die arbeitende Bevölkerung hasst ihr Leben als Büro und/oder Maschinensklaven, was dazu führt, dass sie unmotiviert ist und weit unter ihren theoretisch möglichen Produktivitätsleistungen bleibt.

Man braucht eine Lösung.

Inzwischen hatte sich im Dunstkreis von Banken und Wirtschaftsfakultäten ein völlig neuer Berufszweig entwickelt - der des Unternehmensberaters. Und irgendwo dort, im Großraumbüro eines der ersten Beratungsfirmen entstand endlich SAMSA 13.

Wahrscheinlich wurde sie bei einer Konferenz von Werbeexperten, Personalpsychologen und Betriebswirten geboren. Denn die kommen gemeinsam auf den genialen Dreh Wilhelm Reichs Ideen vom verborgenen inneren Potenzial mit dem Update der Hippies und dem der Selbsthilfegurus zu kombinieren und dem Ganzen dann noch einen neuen Gedanken hinzuzufügen.

Reich hatte darauf bestanden, dass jeder die Möglichkeit in sich trage sich durch befreite Sexualität selbst zu verwirklichen. Die Hippies erklärten persönliche sexuelle und kreative Entfaltung zum Rechtsanspruch.

Die Selbsthilfegurus wiederum, die auf die Hippies folgten, ließen den Sex zunächst mal aus der Gleichung heraus und versprachen, dass jeder sich selbst verwirklichen könne, falls er es nur wolle.

Die Beraterfirmen verkündeten nun kurzerhand, dass jeder für die wahre Entfaltung seiner Möglichkeiten nicht nur selbst verantwortlich sei. Sondern vor allem, dass diese Entfaltung nirgendwo besser gelinge als im Beruf. Denn wer dort erfolgreich war, der könne sich alles, was er sonst noch zum Glücklichsein brauchte, einfach kaufen. Voila! Instant Happiness!

Weil das aber ein bisschen zu abstrakt war musste diese Idee zu griffigeren Formeln eingedampft werden.

So entstanden getarnt hinter Unternehmensberatungen die ersten Bullshitsprüchefabriken. Nach und nach bombardierten sie sämtliche Medien mit den drei beklopptesten aber wohl erfolgreichsten Hirnwäschesprüchen überhaupt:

"Du schaffst alles, wenn du es nur wirklich willst".

"Jeder ist für seine Niederlagen selbst verantwortlich"

"In jeder Niederlage liegt eine Chance verborgen"

Bullshitsprüchefabriken konnten zwar auch mithilfe herkömmlicher Medien ganz gut über die Runden kommen. Doch eines Tages wurde das Internet erfunden. Das war für Bullshitsprüche was Öl für ein Feuer ist.

Bisher war die Hirnwäsche, mit der die Bullshitter die Bevölkerung überzogen hatten, schon unerwartet erfolgreich für die Wirtschaftsbosse verlaufen. Aber das Internet schaltete den Turbo an den Turbo. Und innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte übertrafen die Erfolge der Bullshitter selbst die wildesten Träume des gierigsten Hedgefondsmilliardärs.

Heute glauben wahrscheinlich drei Generationen von Leuten daran, dass sie für ihren Erfolg allein verantwortlich seien, dass Gehaltsschecks glücklich machen und dass jede Niederlage eine verborgene Chance zur Selbstverwirklichung darstelle.

Wir sind bereit uns zu Tode zu schuften, indem wir uns einreden, dass wir uns noch den einen Ticken mehr selbst optimieren sollten um es danach zum nächstbesseren Job, der nächstgrößeren Wohnung, dem geileren Wagen, der cooleren Stammtränke zu bringen.

Zum Ausgleich für den Stress installieren wir Tinder, ficken uns die Mandeln aus der Kehle und verwechseln das wahlweise mit dem großen Abenteuer oder der perfekten Erlösung.

Wir sind SAMSA 13, der Mutter aller Verschwörungstheorien so extrem tief

in die Falle getappt, dass wir den Bullshitfaktor des Lebens so fest umarmt haben, dass wir mit ihm eine verdammte Symbiose eingegangen sind. Denn wenn wir für unser Glück alle selbst und allein verantwortlich sind und jede beschissene Niederlage als Chance zu betrachten haben, dann spielen andere Faktoren, die uns am Glück hindern kaum noch eine Rolle in der Wahrnehmung. Wenn du dann bei der nächsten Lohnerhöhung übergangen wirst, warst du selbst schuld, dann hattest du die eben nicht verdient. Dein Boss und dessen Aktionäre werden inzwischen an deiner Maloche reicher. Merci, mon Ami!

Die Frage ist also vielleicht gar nicht mehr: wie kommen wir aus dieser Bullshit-Tretmühle wieder heraus? Sondern, welche Steigerungsform von SAMSA 13 stehen uns in Zukunft noch bevor?

Schon 1992 schlug der Psychiater Richard B. Pentall vor "Happiness" als psychische Krankheit ins DSM, den weltweit genutzten Katalog von psychischen Erkrankungen aufzunehmen. Begründung: "Es sei eine statistisch rarer Zustand, der geistig Ausnahmezustände beinhalte und womöglich das Nervensystem abnormal beeinflusse".

Wenn ich so darüber nachdenke, kann es vielleicht gar nicht mehr allzu lange dauern, bis irgendeiner das ernst nimmt und glücklich sein tatsächlich als Krankheit anerkannt werden wird.

Und was dann?

Vor 77 Jahren behauptete Albert Camus, dass es nur ein einziges ernsthaftes philosophisches Problem gäbe, nämlich den Selbstmord und die Herausforderung sich zu entscheiden ob man das Leben lebenswert fände oder nicht. Er löste das Problem, indem er dazu riet die Absurdität des Lebens einfach für sich anzunehmen und dadurch zu entschärfen, dass man sie mit einer gewissen Lust am Irrsinn einfach umarmte.

Der höchste denkbare Irrsinn in einer durch Bullshitter und Turbokapitalismus verseuchten Gesellschaft besteht ja vielleicht darin, die Hirnwäsche zu ignorieren, in bester Frühhippietradition dem allen den Finger zu zeigen und gemeinsam statt allein ein paar Dinge zu ändern.

Ulf Torreck

Ulf schreibt Bücher und hin und wieder verfasst er auch Artikel für Webseiten oder Zeitungen. Er mag Guinness und glaubt, dass Einhörner ausgestorben sind.

https://ulftorreck.com
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